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Niederschwellige Kunst

 

ImageEine Freundin meiner Eltern hatte die Malerei für sich entdeckt. Da ich immerhin Mitglied der Künstlersozialkasse war, bat sie mich die Resultate ihrer neuen Leidenschaft zu begutachten. Also wurde ich in den ersten Stock ihres kleinen Reihenhauses gebeten, der aus einem von Katzen bevölkerten Raum bestand, in dem sich etliche Buchstapel, ein Notenständer, eine Gitarre, viele Farbtuben und eine Staffelei befanden.

»Hier ist mein neuestes Werk«, verkündete die Künstlerin stolz. Auf der Malpappe war ein fast fertiger Pferdekopf abgebildet. An einigen Stellen konnte man noch die vorgedruckten Felder erkennen, die ausgemalt werden mussten. »Malen nach Zahlen?«, fragte ich irritiert.

»Aber alles von mir ganz allein gemalt!«, kam es stolz zurück.

Wenn ich die vielen KI-generierten Bilder in den sozialen Medien betrachte, denke ich oft an diesen Moment. Der Stolz auf eine Kreativleistung, die eigentlich keine ist, scheint besonders heute weit verbreitet zu sein. Sicher, sich mit fremden Federn zu schmücken ist besser als Drogen auf Schulhöfen zu verkaufen – aber nicht VIEL besser.

Für einige Künstler ist die KI jedoch ein Segen. Besonders zweitklassige, die mit Ach und Krach ein halbwegs professionelles Niveau erreicht haben, können dank KI endlich den ersehnten Quantensprung vollbringen. Allerdings: Ihre wichtigste Kreativleistung besteht nun aus Retuschearbeiten, die sie mit Photoshop erledigen, denn die Software weist noch immer etliche Macken auf. Trotzdem sind sie stolz wie Bolle, wenn sie online »ihre« neuen Machwerke präsentieren.

Zu dumm, dass dank KI auch Menschen, die nie etwas mit Kunst am Hut hatten, plötzlich Werke generieren können, die diesen Machwerken in nichts nachstehen. Wenn jetzt alle Leute Kunst fabrizieren können, wer braucht dann noch Künstler?

Die Künstliche Intelligenz sei nur ein Tool, höre ich immer wieder. Ein Werkzeug, das uns helfen soll, unseren Job schneller und effizienter zu erledigen. Wer sich dagegen wehrt, ist ein Ewiggestriger, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat.

Für die künstlerisch Unbegabten ist die KI sicher eine schöne Sache. Sie offeriert digitale Stützräder, die ihnen helfen, etwas zu erschaffen, das sie aus eigener Kraft nie vollbringen könnten. Für Werbeagenturen und Verlage ist sie eine prima Möglichkeit, Mitarbeiter zu entlassen. Für alle anderen ist sie ein tragischer Selbstbetrug, denn mit ihren KI-Stützrädern haben sie sich jede Möglichkeit genommen, Fähigkeiten zu entwickeln, um eines Tages so etwas wie wahre Meisterschaft zu erlangen. Anders ausgedrückt: Kann man sich wirklich freuen, wenn man auf einem E-Bike die Tour de France gewinnt?

Technikbegeisterte mögen solche Überlegungen gar nicht. Sie fordern uns auf, die positiven Seiten der fortschreitenden Digitalisierung zu erkennen. Durch sie können wir uns nun ganz auf die schönen Dinge des Lebens konzentrieren. Dinge wie Wäsche bügeln, Fenster putzen, Geschirr einräumen oder »Malen nach Zahlen«.

Sommerloch

 

ImageGerade in der Urlaubszeit, wenn das Aufregendste der Blick aufs Thermometer ist, schlägt die große Stunde der Sommerloch-Tiere. Sei es das ausgebüxte Krokodilbaby Sammy oder Eisbär Knut. Ein ereignisloser Sommer genügte, um sie zum Star zu machen.

Doch auch weniger exotische Tiere bekommen in der heißen Jahreszeit ihre Chance. Eine der eindrucksvollsten Sommerloch-Schlagzeilen der Bild-Zeitung lautete schließlich: »Sau kommt im Zementmischer um!« In Großbritannien heißt das Sommerloch daher viel treffender »Silly Season«. Dieser Begriff tauchte erstmals 1861 auf und umschrieb die Jahreszeit, in der sich Parlament und Gerichtshöfe im Urlaub befanden. Diese als »Sauregurkenzeit« bezeichneten Monate wurden sogar in einem Song thematisiert: »Wenn die Untertassen fliegen, sei’s in Bild oder Express, liest man statt von Arbeitslosen Ungeheures aus Loch Ness.«

In fast allen Ländern Europas landeten in den Sommermonaten Themen auf der Titelseite, die es sonst höchstens in die Rubrik »Vermischtes« geschafft hätten. Klassiker waren natürlich das bereits erwähnte Ungeheuer von Loch Ness und Yeti, der Schneemensch, die traditionsgemäß besonders häufig im Sommer aktiv werden.

Die meisten Sommerlochthemen sind natürlich selbstgemacht. Ein gutes Beispiel ist die Geisterstimme »Chopper«, die 1982 angeblich aus den Spucknäpfen und Kloschüsseln einer Zahnarztpraxis bei Regensburg kam. Das Ganze war der Scherz eines gelangweilten Zahnmediziners und seiner Zahnarzthelferin, die so der Praxis einen ungeahnten Aufschwung verschafften. Ein Streich, der nicht ohne Folgen blieb: Die sechzehnjährige Zahnarzthelferin wurde gerichtlich verwarnt und musste 1.500 Mark Strafe zahlen, während sich der Zahnarzt und seine Frau vorsichtshalber in die Psychiatrie einweisen ließen.

Harmlos dagegen ging es im Sommer 1993 zu, nachdem der Vorschlag des CSU-Politikers Dionys Jobst, Mallorca zum 17. Bundesland Deutschlands zu machen, ausgiebig in der Bild-Zeitung diskutiert wurde.  Die Sozialen Medien trieben natürlich alles auf die Spitze. Ein absoluter Tiefpunkt der Sommerloch-Themen wurde daher 2011 erreicht, als es ein zerstörter Blumenkübel aus dem Münsterland zum Internet-Star brachte. Den Anstoß gab ein harmloser Tweet: »In Neuenkirchen ist ein Blumenkübel umgefallen.« Dank emsiger User wurde die Nachricht schnell zum »Trending Topic« und gelangte in die Top 5 der weltweit meistgetwitterten Themen. Zehntausende verbreiteten den Bericht weiter. Bald entstanden sogar ein »Blumenkübel-Song« und ein YouTube-Video, in dem der dramatische Vorfall nachgestellt wurde. Immerhin wurde das Neuenkirchener Altenheim Antoniusstift, wo sich der Vorfall ereignet hatte, von besorgten Bürgern großzügig mit Ersatzkübeln versorgt.

Auch meine Stadt konnte vor einigen Jahren mit einem Sommerloch-Tier aufwarten, als dort im Juli urplötzlich ein Känguru durch die Straßen eines Randbezirks hoppelte. Ein Anwohner hatte das entlaufene Tier gesichtet und sofort die Einsatzkräfte der Feuerwehr, die zufälligerweise gerade von einem Einsatz kamen, alarmiert. Mit vereinten Kräften gelang es Polizei und Feuerwehr, das Känguru auf einem Garagenhof einzufangen und seinen dankbaren Besitzern zurückzubringen.

Noch dankbarer als die Besitzer waren jedoch die Medien. Neben mehreren Zeitungsartikeln und Agenturmeldungen schaffte es das entlaufene Tier sogar ins Programm des NDR. »Wird es artgerecht gehalten?«, fragten sich Tierschützer. »Ich finde es gruselig, ein Känguru zu Hause zu halten«, erklärte die Leiterin des nahegelegenen Nabu-Artenschutzzentrums der Süddeutschen Zeitung. 

Es handelte es sich um ein »Wallaby«, hieß es, eine kleine Känguruart, die nur eine Größe von 70 bis 80 Zentimetern erreicht. Trotzdem benötigen Wallabys laut Expertenmeinung ein mindestens 200 Quadratmeter großes Außengehege sowie einen weiteren Artgenossen. Die Veterinärabteilung der Stadt nahm den Vorfall zum Anlass, der Sache nachzugehen und zu prüfen, ob die Vorschriften des »Gutachtens über Mindestanforderungen an die Haltung von Säugetieren« in diesem Fall ausreichend erfüllt seien, berichtete die Lokalzeitung. Da sich weder Besitzer noch Wallaby zu dem Vorfall äußerten, waren die Känguru-Chroniken damit beendet.

Zumindest bis zum nächsten Sommerloch.

Mitbewohner

 

ImageEine Freundin von mir hat seit neuestem einen Untermieter. Wenn ich nun zur Kaffeestunde mit ihr in ihrer Küche sitze, kann es durchaus passieren, dass ein bärtiger Mann im Bademantel herein schlurft. »Tach«, sagt er dann nur knapp, schnappt sich etwas aus dem Kühlschrank und verschwindet stehenden Fußes in sein Zimmer. Etwas befremdlich finde ich das schon. Meine Freundin hat jedoch WG-Erfahrung und meint, so etwas sei ganz normal.

Früher musste sie stundenlang vor dem WC warten, wenn sich ihre Mitbewohnerin mit einem Lover in der Badewanne vergnügte. Natürlich hätte sie sich auch zu ihnen ins Bad begeben dürfen, so weltoffen war man damals schon, doch irgendwie mochte sie nicht vor den Beiden die Hosen runterlassen.

Der große Knall kam, als sich ihre Mitbewohnerin ständig Sachen von ihr auslieh, ohne jedoch vorher zu fragen. Irgendwann entdeckte sie einen großen Brandfleck auf ihrer Lieb­­lingsjacke. Zur Rede gestellt, zeigte die Mitbewohnerin keinerlei Schuldbewusstsein. »Ist doch nur eine Jacke«, kommen­tierte sie lapidar. Danach durfte sie flugs ihre Koffer packen, denn der Mietvertrag lief zum Glück auf den Namen meiner Freundin.

Ich selbst hatte nie in einer WG gehaust. Als ich von zuhause wegzog, war ich froh, endlich mein eigenes Reich zu haben. Am Anfang war es jedoch sehr schwer, plötzlich allein zu leben. Dazu in einer anderen Stadt. Die ersten Tage waren furchtbar. Ich sehnte mich nach meinem ach so ruhigen Zimmer bei den Eltern, denn plötzlich wohnte ich mitten in einer großen Stadt, in der es lauter zuging, als in meinem verschlafenen Heimatort. Vor allem hatte ich nun Nachbarn, die alles, was ich tat, neugierig observierten.

Links von mir wohnte eine pensionierte Lehrerin, die einmal mit einem weißen Handschuh übers Treppengeländer strich, um zu demonstrieren, wie schlampig ich das Treppenhaus geschrubbt hatte. Auf der anderen Seite lebte eine alte Dame, bei der es immer ein wenig nach Urin roch, wenn sie die Tür öffnete. Über mir wohnte eine schwerhörige Rentnerin, die rund um die Uhr Volksmusik hörte – und zwar so laut, dass ich hätte mitschunkeln können. Wenige Wochen, nachdem ich einzog, verstarb sie auf dem Klo sitzend, wie Elvis Presley.

Der einzige Lichtblick im Haus war eine sehr attraktive Erzieherin im Erdgeschoss. Sie hatte die monumentalste Kehrseite, die ich je bei einer Frau gesehen hatte. Mit all ihren Macken und Marotten sorgten sie dafür, dass ich mich nicht zu einsam fühlte, in meiner neuen Behausung.

WGs erlebte ich nur als Gast. Ständig gab es dort große Diskussionen. Egal, ob es der Kühlschrank war, der nicht richtig gesäubert wurde, oder die defekte Glühbirne im Flur, die niemand auswechseln mochte. Ständig wurde genörgelt und gemeckert. Der größte Streitpunkt war immer das Bad, in dem ständig jemand vor, auf oder neben die Klobrille gepinkelt hatte. Auch verschimmelte Duschvorhänge schienen in einer WG eine große Rolle zu spielen.

Im Grunde war eine Wohngemeinschaft so etwas wie ein Ehe-Bootcamp, in dem man darauf geschult wurde, Kompromisse zu schließen und sich rund um die Uhr auseinanderzusetzen. Besonders für Frauen hatte so etwas durchaus Vorteile: Männer mit WG-Erfahrung schrauben jede Senftube zu und pinkeln garantiert im Sitzen. Allein deswegen, weil sie einfach keine Lust mehr haben, sich zu rechtfertigen.

Ein wenig bedaure ich schon, nie in einer WG gelebt zu haben, denn dort werden Freundschaften fürs Leben geschlossen. Fast wie bei der Bundeswehr. Da ich jedoch etliche Freunde hatte, die in Wohngemeinschaften lebten, bekam ich oft sehr viel mehr mit, als mir lieb war.

Besonders schlimm wird es, wenn sich ein männlicher Bewohner in eine Mitbewohnerin verliebt. Ein guter Freund von mir jammerte oft, dass eine attraktive Frau in seiner WG jeden Abend einen anderen Kerl mit nach Hause schleppte und er nebenan mitbekam, was sie alles mit ihm anstellte. Während die Lustschreie seiner Angebeteten durch die dünne Zimmerwand hallten, weinte er sich einsam in den Schlaf.

Wenn WG-Unerfahrene gezwungen sind, für kurze Zeit als Untermieter zu leben, kann dies ebenfalls zur Katastrophe führen. Vor einigen Jahren vermittelte ich einen Bekannten an eine alte Freundin. Er suchte ein Zimmer, sie brauchte Geld – eine gute Kombination, dachte ich. Anfangs sah es fast so aus, als ob zwischen den Beiden mehr entstehen würde, als nur ein Wohnverhältnis – bis er mitbekam, dass sie nachts in die Dusche pinkelte, statt ins Klo, das sich auf halber Treppe befand. Man sollte meinen, dass ein Mann, der ein Jahr als Entwicklungshelfer im tiefsten südamerikanischen Dschungel gelebt hatte, Schlimmeres gewohnt war. War er aber nicht. Als er bei ihr auszog, schüttete er zum Abschied einen Beutel Katzenstreu in die Duschwanne.

Beide sprachen nie wieder ein Wort mit mir.

Die innere Sicherheit

 

ImageWas hat meine Wohnungstür mit einem James Bond-Film gemeinsam? Auch meine Tür kann seit ein paar Wochen mit einem Spion aufwarten. Aus Gründen der Sicherheit wurden zudem alle Glasfenster der Tür mit Holzplatten überklebt. Die Gegensprechanlage war wohl nicht genug. Seitdem ist mein Dasein noch düsterer als ohnehin. Das ist ärgerlich. Die alte Tür atmete den Charme der Fünfzigerjahre. Nun sieht es in meinem Treppenhaus aus wie in jeder x-beliebigen Mietskaserne. Seltsamerweise finden einige Leute so etwas schön. Am liebsten hätten sie eine Metalltür, mit einer dicken Stahlschiene und zehn zusätzlichen Sicherheitsschlössern.

Nicht, dass es in meinem Mietshaus viel zu holen gäbe. Falls es in meiner Nachbarschaft Millionäre gibt, haben sie dies gut vor mir verborgen. Eine Verbrechenswelle ist ebenfalls nicht zu befürchten, denn Guatemala liegt weit entfernt. In den letzten Jahrzehnten hat die Kriminalität in meiner Stadt zudem stetig abgenommen. Gefährlich leben hier höchstens kleine Hunde, die befürchten müssen, von vereinsamten Rentnern zu Tode gestreichelt zu werden. Die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist trotzdem so hoch wie nie. »Quartierssicherheit« ist daher ein beliebtes Thema. Doch was macht man, wenn alles im Quartier bereits sicher ist? Öde sogar. Antwort: Dann macht man sich auf der Suche nach Orten, die gefährlich sein könnten. Wenn ein Weg beispielsweise etwas abgelegen liegt, oder schlecht beleuchtet ist, bezeichnen wir dies im Fachjargon als »Angstort«, auch wenn dort noch nie etwas passiert ist. Dass dort etwas passieren könnte, reicht schon.

Ein unbeleuchteter Weg, in Friedhofsnähe, bei Nacht wäre für viele sicher die Königsklasse solcher Angstorte. Für mich persönlich wäre so ein Angstort ein x-beliebiger Platz im Publikum von Helene Fischer. Da an den meisten dieser Orte bislang keine Verbrechen stattgefunden haben, sind die Ängste völlig irrational. Statt den Menschen dies klarzumachen, gibt man lieber Geld aus, um ihnen ihre Furcht zu nehmen. Wege werden beleuchtet, Kameras installiert, Notrufsäulen aufgestellt, Türen mit Holzplatten verstärkt. »Vorbeugende Maßnahmen« nennt man das.

Woher rührt dieses übersteigerte Sicherheitsbedürfnis? Noch nie waren die Leute so besessen von der Kriminalität wie heute. Das Spiel mit der Angst hat es den Menschen angetan. Kriminalromane gehören zu den Bestsellern und auch im Fernsehen gibt es Krimiserien, wohin man blickt. Die imaginierten Morde können nicht blutrünstig genug sein. Ein popeliger Bankraub genügt nicht. Es muss mindestens ein Serienmord sein.

Mit an stoischem Fanatismus grenzenden Eifer wird am Sonntag bundesweit »Tatort« geschaut. An jedem anderen Wochentag gibt es eine enorme thematische Vielfalt, die von »Morden im Norden« bis »Nord Nord Mord« reicht. Von Fernweh Geplagte bevorzugen »Der Amsterdam-Krimi«, »Der Barcelona-Krimi«, »Der Athen-Krimi« und der »Kroatien-Krimi«. Bodenständige schauen dagegen den »Erzgebirgskrimi«, »Usedom-Krimis« oder »Der Bozen-Krimi«. Wer helfen möchte, die deutsche Kollektivschuld abzutragen, ist mit »Der Tel-Aviv-Krimi« bestens bedient.

Wen wundert‘s, dass so verunsichterte TV-Konsumenten überall nur noch Angstorte sehen? Wahrscheinlich wollen die Zuschauer solcher Krimis einfach nur sehen, wie die Übeltäter am Ende ins Kittchen wandern. Das gibt uns allen irgendwie ein Gefühl von Sicherheit; denn darum geht es doch im Prinzip. Nur dumm, dass es so etwas wie Sicherheit in unserem Leben nicht gibt.

Wer nicht von einem fallenden Klavier erschlagen wird, kann am nächsten Tag von einem Hirntumor dahingerafft werden. Das Leben ist und bleibt kein Ponyhof. Auch ein Fahrradhelm schützt uns nicht davor, von einer Dampfwalze platt gefahren zu werden. Selbst wenn man jeden Angstort mit Überwachungskameras ausgestattet hat, kommt garantiert das nächste Fukushima und die ganze schöne Sicherheit ist wieder zum Teufel. Furchtsame Gemüter, die ganz viel Sicherheit benötigen, sollten vielleicht besser nach China auswandern, denn im perfekten Überwachungsstaat sind Verbrechen fast unmöglich. Hier kann man im Bus seine Brieftasche vergessen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie ein anderer einsteckt. Die Angst vor den Konsequenzen ist einfach zu groß.

Bis wir auch hier so weit sind, sollten wir es vielleicht wie Linus, von den Peanuts halten, der aus Gründen der inneren Sicherheit immer seine Schmusedecke (im Original: Security Blanket) im Gepäck hat. Kostengünstiger als eine Überwachungskamera ist diese allemal.

Weise Worte

 

ImageFernsehen bildet. In einer Dokumentation über Romy Schneider habe ich neulich folgendes gehört: »Steck Deine Kindheit in die Tasche und renne davon, denn das ist alles, was Du hast!« Diesen schönen Rat erhielt die tragische Schauspielerin ausgerechnet von ihrem Vater, Wolf Albach-Retty, nachdem sie ihre erste Rolle bekommen hatte. Allerdings ist diese Erkenntnis wohl nicht auf seinem eigenen Mist gewachsen. Mehrere Quellen geben Theaterlegende Max Reinhardt als Urheber dieser Zeilen an. Fest steht, dass von Reinhardt folgender, nicht unähnlicher Satz überliefert wurde: »Das Theater ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen.«

Bonmots wie diese haben mir schon immer gefallen. Den Ausschlag gab vielleicht Hans-Joachim Kulenkampffs Sendung »Nachtgedanken«, die vor über drei Jahrzehnten zu mitternächtlicher Stunde ausgestrahlt wurde. Mit einem dicken Wälzer in der Hand, auf dem er hinter ebenso dicken Brillengläsern herabschaute, erklärte Kulenkampff allen Nachtschwärmern und Schlafgestörten die Welt. Eine Rolle, in der er sich schon immer gut gefiel.

Fünf Jahre lang las er dem insomnen Fernsehvolk rund 5000 Lebensweisheiten von Goethe und Schiller bis Kästner und Ringelnatz vor, die kaum länger als drei Minuten dauerten (die Aufmerksamkeitsspanne war damals etwas länger). Natürlich war dies abgefilmtes Radio. Doch das Format gefiel mir, da man nebenbei andere Sachen machen konnte. Während ich in Nachtarbeit erste Illustrationsaufträge erledigte, war es die ideale Geräuschkulisse. Später erfuhr ich, dass es sich hierbei um »Aphorismen« handelte, die vor vielen Jahrzehnten hoch im Kurs standen. Besonders Schriftsteller liebten es, mit ein paar pointierten Worten einen komplexen Sachverhalt auf den Punkt zu bringen.

Der Spitzenreiter auf dem Gebiet war sicher Oscar Wilde, dessen literarische Hinterlassenschaft mindestens doppelt so voluminös gewesen wäre, wenn er sein Pulver nicht auf diversen Partys verschossen hätte. Zum Glück war immer jemanden da, der nüchtern genug blieb, um alles mitzuschreiben. Sprüche wie »Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen!« und besonders »Ich bin gerne der einzige, der redet – das erspart Zeit und verhindert Streitereien.« sind bis heute unerreicht und zum Leidwesen meiner Umgebung fast so etwas wie ein Lebensmotto geworden.

Verglichen mit Wilde waren die Erkenntnisse späterer Generationen eher ärmlich. »Ein mündlicher Vertrag ist nicht das Papier wert, auf dem er geschrieben ist«, von Filmproduzent Samuel Goldwyn war zumindest noch amüsant. Spätere Talkshow-Weisheiten, wie etwa »Der (bitte N-Wort eintragen) schnackselt halt gerne«, von Fürstin Gloria von Thurn und Taxis konnten dagegen nicht wirklich mithalten.

Heute findet man weise Worte eher im Alltag. »Wer morgens aufwacht und keine Rückenschmerzen hat, ist entweder unter vierzig oder tot«, bemerkte eines Tages eine meiner Verflossenen. Wahrscheinlich habe ich sie gerade wegen solcher Gedanken geliebt. Auch die Bäckereifachverkäuferin von nebenan ist eine Quelle nie enden wollender Weisheiten.

Das große Comeback der Aphorismen kam mit Twitter. Gerade die Begrenzung von 140 Zeichen je Tweet schien viele User zu inspirieren, eigenes krauses Gedankengut abzusondern. Einiges von dem, dass ich las, fand ich höchst amüsant. So amüsant, dass ich twitternden Freunden gern mit eigenen Ideen aushalf. Eine meiner kreativen Höchstleitungen war sicher »Ironie ist, wenn der Landwirtschaftsminister ein Bäuerchen macht.«

Zugegeben, es gibt tiefschürfendere Gedanken – und genau das ist die Misere. Was derzeit im Internet verbreitet wird, fand man vor vielen Jahren an den Wänden jeder gut besuchten Herrentoilette. Nur diese Einsicht und meine sprichwörtliche Bescheidenheit halten mich davon ab, einen eigenen Twitter-Account einzurichten. Material hätte ich genug. Vor allem seit ich mich auf dem absteigenden Ast befinde, werden meine Lebensweisheiten immer rührseliger – besonders, was die eigene, nicht allzu ferne Zukunft betrifft: »Das Leben ist wie ein Rockkonzert. Während einige gegen Ende hin bereits ihre Sachen packen und sich in Richtung Ausgang bewegen, warten andere noch auf eine Zugabe.« Ich hoffe, es wird nicht ganz so schlimm.

Sätze wie diese schreien gerade danach, auf die Menschheit losgelassen zu werden. Allerdings nicht via Twitter, sondern in Form chinesischer Glückskekse.

Wortmax goes print

 

ImageFast immer, wenn man auf der Buchmesse Autoren trifft, ist von einem Projekt die Rede, »für das sich sowieso kein Verlag interessiert«. Im Grunde ist das ein trauriger Moment. Denn viele dieser Projekte klingen hochinteressant, nur werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit nie umgesetzt. Durch stetig sinkende Verkaufszahlen verunsichert, setzen Verlage immer mehr auf Altbewährtes. Von der Experimentierfreude vergangener Jahrzehnte ist immer weniger zu spüren.

Dabei war es nie so einfach Bücher zu publizieren. Die nötige Software haben viele auf dem Rechner. Dazu gibt es unzählige Druckereien, die potentielle Autoren von Kleinstauflagen als Zielgruppe anvisieren. Die Hersteller von eBooks haben es sogar noch einfacher. Die sozialen Medien ersetzen dabei Vertreter und Presseabteilung. Das verlegerische Risiko liegt hier bei Null. Kein Wunder, dass »crossmediales Publizieren« in aller Munde ist.

Branchenkenner werden spätestens jetzt müde lächeln, denn erfahrene Schriftsteller scheuen dieses Risiko. Sie wissen, dass Herstellung, Werbung und Vertrieb eines Buches wesentlich einfacher ist, wenn man einen Verlag im Rücken hat, zumal wenn dieser mit gutem Ruf der Veröffentlichung ein Gütesiegel verleiht. Und doch gibt es Autoren, die diesen Schritt bereits gewagt haben; beispielsweise ihren Backkatalog im Selbstverlag herausbringen und auf ihrer Website bewerben. Schließlich ist jedes verlagsvergriffene Buch für den Schriftsteller totes Kapital.

Nach zwölf Jahren wortmax haben wir uns entschlossen selbst die Arena des crossmedialen Publizierens zu betreten. Viele in unserem Team haben auf dem Gebiet der Buchherstellung langjährige Erfahrung und bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Warum nicht dieses Wissen nutzen, um eigene Lieblingsprojekte umzusetzen, dachten wir uns.

Das erste Buch der edition wortmax ist ab sofort erhältlich. Es trägt den schönen Titel »Ist Götterspeise Blasphemie?« und enthält Texte von Karsten Weyershausen. Einige dieser Texte wurden bereits auf unserer Website veröffentlicht. Für die Buchversion wurden sie allerdings überarbeitet und ergänzt.

Wir sind gespannt, wie dieser Versuchsballon angenommen wird. Wir möchten in unserer neuen edition wortmax Bücher herausbringen, die uns besonders am Herzen liegen und mit der Geschichte unseres Blogs verbunden sind. Schauen wir mal, wie sich das Ganze entwickelt.